Nina William Écrivaine

 

 Die obige Zeichnung ist das Werk meiner Enkeltochter


Kindergeschichten schreiben ist etwas Wunderbares, denn Kinder sind anspruchsvolle Leser.

Meine Lieblingsautorin für Kinderbücher, Astrid Lindgren, sagte: „Ich will für Leser schreiben, die noch Wunder erfinden können. Kinder erfinden Wunder, wenn sie lesen.“


Lenas wunderbare Reise

Fantasy

Es war eine düstere Novembernacht. Lena war allein zu Hause. Ihre Mama musste heute Abend weggehen. „Ich werde bald wieder kommen“, hatte sie gesagt, „du brauchst keine Angst zu haben, Zita ist bei dir und wird über dich wachen.“ Doch Lena konnte lange nicht einschlafen, das Ächzen und Knarren des alten Hauses machten ihr Angst. Zita, die Hündin, hatte ein paar Mal gebellt. Erst als es vom Kirchturm her Mitternacht schlug, gab sie Ruhe. „Meine Mama wird bald kommen“, sagte Lena und streichelte die Hündin. Nach dem zwölften Glockenschlag fielen Lena die Augen zu.
Ein leichter Wind streichelte ihr Gesicht. „Mach die Augen auf“, flüsterte er und blies dem Mädchen die braunen Locken aus dem Gesicht.
„Mach die Augen auf und schau, wie schön es hier ist.“
Lena hörte das Flüstern des Windes und öffnete die Augen. Wunderbare Helligkeit erfüllte das Zimmer. Das Fenster war weit geöffnet und die hellblauen Vorhänge tanzten im Wind. „Komm, komm und schau“, rief der Wind und Lena näherte sich dem Fenster. Da hob der Wind Lena auf den Fenstersims, und wupps, sass Zita auch schon neben ihr. Lena staunte. Vor ihrem Fenster, da, wo sonst eine grässliche alte Fabrik mit einem grossen, rauchenden Kamin stand, lag eine bunte Blumenwiese mit blühenden Obstbäumen. Schmetterlinge flatterten von Blume zu Blume, Vögel schwirrten durch die Luft und die Äste der Bäume wiegten sich im Wind. Zita sass ganz still neben Lena und getraute sich nicht zu bellen. Die Sonne lachte am wolkenlosen Himmel. Die Sonne, von der sonst nie ein einziger Strahl in Lenas Zimmer  zu scheinen vermochte.
Über die Wiese galoppierte ein weisses Pferd und verneigte sich vor Lena. „Guten Tag, kleine Lena“, sagte das Pferd.
Da staunte das Mädchen wieder: „Oh, du schönes Pferd, du kannst sprechen?“
„Ja, und ich bin gekommen, dich zu holen. Deine Hündin darf auch mitkommen. Wir werden eine wunderbare Reise machen. Steigt auf“, sagte es, und stellte sich unter das Fenster, damit Lena gut in den goldenen Sattel rutschen konnte. Dann wieherte das Pferd und Zita sprang hinter Lenas Rücken.
„Wohin reiten wir denn?“ fragte Lena das Pferd.
„Wir werden fliegen, kleine Lena“, antwortete es.
„ Oh, du kannst auch fliegen!“
„ Ja, ich bin Anaïs, das fliegende Pferd.“
„ Wohin fliegst du uns denn?“
 „ Wir fliegen nach Samkita, von dort komme ich her.“
„ Wo ist das, Samkita?“
„Ganz weit weg, mitten in Afrika.“
„ Ist das dort, wo mein Papa lebt?“
Das Pferd wieherte und nickte, breitete seine Flügel aus und erhob sich in die Lüfte.  Sie flogen über Blumenwiesen, über Wälder und Felsen, über Hügel und immer höher, über die Bergspitzen dem Himmel entgegen.
Zita klammerte sich mit ihren Pfoten an Lenas Körper, und Lena hielt sich an der goldenen Mähne des Pferdes fest. So flogen sie dahin, viele Stunden lang. Lena spürte keine Angst, sie war glücklich. Sie dachte nur daran, dass sie endlich ihren Papa sehen würde.
Erwartungsvoll blickte sie hinunter zur Erde. Keine Wiesen und Wälder waren mehr zu sehen, keine Seen und keine Berge. Nur goldgelber Sand. „Wo sind wir jetzt?“, rief sie Anaïs, dem Pferd zu.
„Wir fliegen über die Wüste, kleine Lena, sobald du wieder Wald sehen kannst, werden wir in Samkita sein.“

Bald wurde der goldene Sand immer weniger und alles immer grüner. Das Pferd warf seinen Kopf zurück und sagte: „Wir sind bald angekommen. Da unten ist Samkita, in der Mitte Afrikas.“ Dann flog es hinunter, in die Mitte Afrikas, in den Urwald. 
Dort lag Samkita, ein Dorf aus Bambushütten, umgeben von Mangobäumen, Palmen, Baobabs und anderen riesigen, von Schlingpflanzen bewachsenen Laubbäumen. Unter einem Mangobaum auf dem Dorfplatz setzte Anaïs auf. Lena liess die Mähne los und stieg vom Pferd. Zita war schon auf dem Boden und wedelte freudig mit ihrem Schwanz.
Da ertönten Trommelschläge. Vor der grössten Bambushütte sass neben einem Bananenstrauch ein Junge und schlug mit seinen Händen auf eine Holztrommel.

„Was ist das?“, wollte Lena wissen und zeigte auf die Trommel.Das Pferd wieherte, schüttelte seine goldene Mähne und sagte: „Das ist ein Tamtam. Damit verkünden die Menschen hier im Urwald die Neuigkeiten.“
„Kannst du das denn verstehen?“, wunderte sich Lena. Das Pferd antwortete: „Der Junge trommelt: Grosser Prinz Massamba, deine Tochter ist angekommen.“
Der Junge trommelte und trommelte, doch Prinz Massamba erschien nicht. Lenas Augen füllten sich mit bitteren Tränen. Nun hatte sie Angst, dass ihr Papa gar nicht kommen würde. Sie hatte eine weite Reise gemacht und würde ihn vielleicht doch nicht kennenlernen.

Aus der Ferne ertönte ein anderes Tamtam. „Prinz Massamba ist verletzt. Die Tiere aus dem Urwald werden ihn in sein Dorf bringen.“ Kaum hatte Anaïs dies zu Lena gesprochen, war es, als rollte ein Donner durch den Urwald. Zita begann zu bellen, und Lena klammerte sich zitternd an das Pferd. Dieses sagte: „Hab keine Angst, es sind die Elefanten, sie bringen deinen Papa.“
Es waren viele Elefanten. Allen voran die Elefantenkönigin. Sie bildeten einen Kreis um den Mangobaum, und die Elefantenkönigin verneigte sich vor Lena und sprach: „Dein Papa ist am Bein schwer verletzt und hat viel Blut verloren, kleine Lena, er ist in eine Falle der Wilderer geraten. Er ist immer sehr gut zu uns und kämpft gegen die Wilderer, die uns jagen, um mit unseren Elfenbeinzähnen reich zu werden.“

Die Elefantenkönigin sank in die Knie und hob ihren Rüssel weit hinauf auf ihren Rücken. Dann legte sie sorgfältig den Prinzen Massamba auf den Boden. Dieser hatte die Augen geschlossen und Lena erschrak sehr. Sie kniete neben ihn, legte ihre Hände auf das verletzte Bein und flehte: „Papa, ich bin zu dir gekommen, bitte mach die Augen auf, bitte, Papa!“ Grosse Tränen kullerten über ihre Wangen und fielen auf des Prinzen Gesicht.

Er öffnete die Augen und richtete sich auf. „Oh meine Tochter, meine Tochter, wie schön du bist“, sagte er und strich mit seinen Händen über Lenas braune Locken. „Papa, mein Papa“, sagte Lena und fiel ihm in die Arme. Da trompeteten alle Elefanten vor Freude. Die kleine Lena in seinen Armen, erhob sich der Prinz. Sein Bein war geheilt. Als Lena dies sah, sprach sie: „Papa, du bist ja wieder gesund!“
„ Meine Tochter, wenn du nicht gekommen wärst, wenn deine Tränen mich nicht benetzt und deine Hände mich nicht berührt hätten, wäre ich gestorben. So steht es geschrieben im Buch des Urwalds.“
Prinz Massamba setzte sich mit Lena unter den Mangobaum, Zita, die Hündin kauerte zu ihren Füssen. Die Elefantenkönigin verneigte sich vor ihnen. „Hab Dank, Prinz Massamba, für alles, was du für uns getan hast. Die Zeit ist gekommen, wo du dahin gehen wirst, wo dein Glück ist.“ Dann trampelte die Elefantenkönigin mit ihrer Herde in den Urwald zurück.
Anaïs, das weisse Pferd schüttelte seine goldene Mähne und wieherte: „Ich bin bereit, mein Prinz.“ Da setzte sich Prinz Massamba mit Lena und der Hündin auf des Pferdes goldenen Sattel. Es war ein langer Tag gewesen, Lena war müde geworden. Sie legte den Kopf an die Schulter ihres Papas und schlief ein.

Lena träumte. Mit ihrem Papa, gehalten von seinen starken Armen, flog sie auf einem weissen Pferd durch die Nacht. Sie spürte, wie Zita ihre Hand leckte und hörte den Gesang einer lieblichen Stimme: „Gute Nacht, kleines Mädchen, gute Nacht, liebes Kind, du fliegst auf dem Pferdchen, getragen vom Wind…“Es war das Schlaflied, das ihre Mama ihr immer sang.                      

 Nina William