Nina William Écrivaine

 


Ich schreibe gerne Kurzgeschichten. Ich liebe es, viel in einen kurzen Text zu packen. Dabei kommt es mir vor wie beim Rucksack oder Koffer packen, möglichst viel mitnehmen, ohne zu überfüllen. 


Rebecca und die schwarze Möwe
Rebecca zog den Schal enger um sich. Es war heute kühler als die Tage vorher. Vielleicht schien es ihr auch so, weil sie seit Tagen nichts mehr Warmes gegessen hatte und deshalb leicht fror, überlegte sie.
Sie schloss die Wohnungstür ab, stieg die knarrende Holztreppe hinunter, durchquerte den dunklen Innenhof und trat hinaus auf die Straße.
Rebecca wollte ihre neue Freundin besuchen und spazierte durch die Baumallee hinunter zum nahen See.
Gerne hätte sie ihrer neuen Freundin ein Stück Brot mitgebracht, aber sie hatte für sich selbst keines, und der Bäcker im Quartier gab ihr schon längst keinen Kredit mehr.

Sie saß wie immer auf dem Steg, Rebeccas Freundin, und drehte den Kopf, als Rebecca sich ihr näherte, öffnete den Schnabel und sagte: „Schön, dass du wieder da bist."
Rebecca und verstand nicht, warum ihre Freundin immer allein da saß. Möwen waren doch nicht so einsam, immer mindestens ein Pärchen.
Rebecca setzte sich ganz nahe zu ihrer Freundin.
„Ich bin auch froh, dass du da bist, ich kann mit niemandem sprechen. Alle halten mich für verrückt und weichen mir aus, wenn sie mir auf der Straße begegnen.“
Die Möwe legte ihren Kopf leicht schräg und guckte Rebecca an.
„Was willst du mir denn heute erzählen?“, fragte die Möwe.
„Von ihnen, den bösen Menschen“, antwortete Rebecca.
„Sie quälen mich, sie dringen in meinen Kopf ein, und manchmal sprechen sie so laut, schreien zu mir, auch wenn ich die Ohren zuhalte, schreien sie immer weiter. Und wenn ich sie anflehe: ‚Lasst mich in Ruhe‘, dann lachen sie höhnisch. Das tut weh."
„Was sagen sie denn zu dir?“
„Sie sagen: Oh wie bist du hässlich, wir werden kommen und dich töten, du wirst in die Hölle kommen und im Feuer verbrennen.
Ich hasse die Menschen, weil sie immer so böse zu mir sind.“
Die Möwe trippelte zu Rebecca, setzte sich auf ihren Schoss und ließ sich streicheln.
„Und warum bist du allein?“, fragte Rebecca.
„Ach, mich will niemand, ich bin nicht so wie die anderen. Siehst du die anderen Möwen? Sie sind alle silbergrau und weiß, und ich bin schwarz. Sie sagen, ich wäre keine von ihnen, darum wollen sie mich nicht.“
„Hm“, sagte Rebecca, sind die Vögel nun auch schon so, dass sie Andersfarbige nicht akzeptieren?“ Zärtlich strich Rebecca der Möwe über den Kopf.
„Woher stammst du denn eigentlich?“
„Ich bin von weither geflogen“, sagte die schwarze Möwe. „Aus einem Land, wo die Menschen so farbig sind wie du.“
Rebecca lächelte. Ja, ihre Haut sei dunkel, von Gott so geschaffen. Gott hätte den Menschen in Afrika diese dunkle Haut gegeben, damit sie nicht in der Sonne verbrennen.
Kaum hatte Rebecca dies der Möwe erzählt, begannen die Stimmen in ihrem Kopf wieder zu toben.
„Negerin, Negerin, du wirst im Feuer verbrennen.“
„Sie sind wieder da, in meinem Kopf“, lallte Rebecca, die weit geöffneten Augen voll Tränen.

„Geh nach Hause und leg dich hin“, sagte die Möwe, „dann wird alles wieder gut.“
Rebecca tat, wie ihre Freundin ihr sagte, stand auf, hielt sich die Ohren zu, und hastete davon.
Ihre Wohnung erreichte sie nicht. Sie hatte Hunger. Und diese verfluchten Stimmen in ihrem Kopf!
Alles wurde schwarz um sie, schwärzer als ihre Haut.

Auf dem Steg am See saß niemand mehr. Es hatte auch nie eine schwarze Möwe dort gesessen.

Das Versprechen
Sie sei eine alte Schrulle, erzählten die Leute im Tal. Schon Jahre lang lebe sie da oben, nur selten käme sie vom Berg herunter, und nur für kurze Zeit. Die Zeit, die es brauche, im Dorfladen den Rucksack aufzufüllen. Sie spräche mit niemandem und blicke niemanden an. Das sei ein verrücktes Weib.
Dieses verrückte Weib wollte ich besuchen. Erzählt von ihr hatte mir vor vielen Jahren mein Großvater. Sonst wollte niemand in meiner Familie etwas von ihr wissen. Mein Großvater hatte mir erzählt, die Anna hätte wunderbare Gedichte geschrieben, und wäre in der Welt herumgekommen. Als sie von einer langen Reise zurückgekehrt sei, wäre sie verschwunden, in eine Hütte, oben in einem Tal im Kanton Graubünden.
Der Weg war steinig und ich war außer Atem, als ich auf der Anhöhe ankam, von wo aus ich die Hütte sehen konnte. Ich staunte, da stieg die Anna noch hinauf, in ihrem Alter. Immerhin war sie viele Jahre älter als ich, die Schwester meines Großvaters.
Schon von Weitem sah ich sie vor der Hütte sitzen. Ich rief: „Anna, Anna“, und schwenkte meine Arme. Sie reagierte nicht. Vielleicht hört sie nichts, dachte ich.
Als ich vor ihr stand, schaute sie auf. Betrachtete mich. Sagte nichts.
„Ich bin die Sina, die Tochter von deinem Neffen Jakob“, sagte ich zu ihr und streckte ihr die Hand hin.
Sie rührte sich nicht, sagte nur: „Ich weiß.
„Aber…“
„Du gleichst ihm“, unterbrach sie mich.
Ich setzte mich neben sie auf die hölzerne Bank. Die Sitzfläche war
angenehm gewärmt von der Sonne.
„Warum bist du gekommen?“, fragte sie mich.
„Ich schreibe ein Buch über meine Familie. Und du bist die einzige, die ich nicht kenne. Großvater hat mir von dir erzählt. Da wollte ich dich einfach kennen lernen.“
„Was hat er denn über mich erzählt?“
„Du wärst in der ganzen Welt herumgekommen und du hättest Gedichte geschrieben.“
Anna lächelte. „Ja, dein Großvater, er hat alle meine Gedichte gelesen. Er mochte sie. Er mochte auch mich. Er war wohl der Einzige in der Familie. Dein Großvater ist in meinem Herzen geblieben. Die anderen habe ich vergessen. Aber, sprechen wir nicht über Familiengeschichten. Vergangen ist vergangen. Komm, wir gehen hinein“, sagte sie und erhob sich.
Sie öffnete die Tür ihres Heims, trat hinein, ging zur Seite und ließ mich an ihr vorbei.
„Das ist mein Reich“, sagte sie und ein Lächeln überzog ihr Gesicht.
Ich blieb mitten im Wohnraum stehen und fühlte mich sofort in eine andere Welt versetzt.
„Es gibt nur zwei Räume hier, oben mein Schlafzimmer und hier die Stube.“
Ich schaute mich um. Ich hatte mir vorgestellt, die schrullige Anna würde in einer dunklen, ärmlichen Hütte leben. So jedenfalls hatten die Leute es mir erzählt.
Doch dieses Holzhaus hatte nichts mit ärmlich und dunkel zu tun. Die Wände waren hell gestrichen und an den kleinen Fenstern hingen orangefarbene Vorhänge. Den Holzboden schmückte ein beigefarbener Berberteppich, auf dem zwei gemütliche hellbraune Sessel standen.
An allen Wänden Regale, gefüllt mit Büchern und Objekten aus aller Welt.
„Ich habe die ganze Welt bereist“, sagte sie, „und jedes Mal habe ich
etwas mitgebracht.“
Meine Augen schweiften staunend über die Wände. Ich konnte mich nicht sattsehen an all diesen Dingen, die von der weiten Welt erzählten.
„Komm, setz dich, willst du etwas trinken, einen Kräutertee vielleicht?“ Ihre Stimme war herzlich und ich verstand nicht, warum die Leute im Dorf so seltsame Sachen über sie erzählten.
Anna wartete meine Antwort nicht ab, ging zum Holzherd und setzte Wasser auf. Ich mag Tee nicht, und schon gar keinen Kräutertee, aber ich wollte ihr nicht widersprechen. Und es war auch das erste Mal, dass ich
Kräutertee gerne trank.
Sie schlürfte ein paar Schluck aus ihrer Tasse und stellte sie dann auf den Tisch.
„Den habe ich selbst gemacht, alle Kräuter sind von hier oben. Ich bin     nur selten im Dorf, die Leute sind so grob und gewundrig. Ich gehe nur einmal im Monat einkaufen. Käse, Butter, Milch, Eier und Honig bekomme ich bei einem Bauern da unten, du bist beim Heraufsteigen bei ihm vorbeigekommen. Das Mehl hole ich im Dorf und backe mein Brot selber, und dann habe ich noch meinen Garten. Sie trat an ein Fenster und öffnete es weit.
„Schau, mein Garten. Hier wachsen Gemüse und Kräuter, es gibt Beeren und da steht auch ein Apfelbaum. Es reicht, um auch noch zu dörren und einzumachen für den Winter.“
„Hast du nie Langeweile hier oben, fühlst du dich nie einsam?“
„Oh nein“, lachte sie, „einsam? Mit den vielen Büchern und den schönen Erinnerungen? Und der Garten bringt mir auch Beschäftigung. Weißt du, ich hatte ein wunderbares Leben. Ich habe so viele Länder bereist, viele Menschen kennen gelernt, so viel gesehen, Interessantes, Schönes und Trauriges.“
„Wie hast du denn diese Haus hier gefunden?“ wunderte ich mich.
Sie nickte zu sich selbst, als erbitte sie sich die Erlaubnis, mir ein
Geheimnis Preis zu geben.
„Gian, meine große Liebe, nahm mich hier herauf. „Gian liebte die Berge, er war professioneller Bergsteiger.“
Anna blickte mich mit feuchten Augen an. „Dreißig Jahre sind es her. Eines Tages wollte Gian den Berg da oben besteigen.“
Sie zeigte mit ihrer Hand auf eine schneebedeckte Bergspitze. „Er kam nicht bis auf den Gipfel. Er ist zu Tode gestürzt.“
Lange sagten wir beide nichts. Auch meine Augen waren feucht geworden.
Anna sprach weiter. „Ich wollte nie mehr von hier weg. Die Hütte gehörte
ihm, und so wurde Gian im Garten begraben und ich bin für immer bei ihm geblieben.“
Anna blickte über das Tal und bat mich: „Sina, versprich mir, dass nie jemand mich von hier wegholt, auch nicht, wenn ich tot bin.“
Ich versprach es.

Der Augenblick
Bitte warten Sie einen Augenblick. Und ich warte. Kostbare Minuten meines Lebens. Unser Leben ist ausgefüllt von Augenblicken.
Augenblicke, an denen wir warten. Augenblicke, an denen wir fröhlich sind, andere, an denen wir weinen, leiden, traurig sind. Augenblicke, die unser Leben bereichern, andere, die uns sinnlos erscheinen. Doch sinnlos ist keiner. Jeder Augenblick ist gefolgt von einem nächsten. Sie fügen sich zusammen wie Puzzleteile zum Puzzle unseres Lebens.
Ein Augenblick ist viel mehr als ein Zeitfenster unseres Lebens, er kann unser Schicksal bestimmen. Wenn Blicke von zwei paar Augen sich begegnen, da können sich zwei Leben verändern, zwei Menschen sich finden. Es können aber auch hasserfüllte Augen Blicke sein, die uns zutiefst aufwühlen.
So hat der Augenblick den Sinn von Zeit, aber auch von Sehen. In einem Augenblick können wir mit einem Augen Blick etwas sehen und erleben, das unser Leben bereichert, verändert.
Der Augenblick ist verewigt, er ist ein winziger Teil unseres Lebens und selbst wenn er vorüber ist, er wird bleiben, als Erinnerung verankert in unserem Gedächtnis und in unseren Gefühlen.
So mein Herr, hier ist Ihr Koffer. Das macht fünf Franken bitte. Ich bezahle, nehme meinen Koffer und gehe. Weiter zu neuen Augenblicken.


Der Weg, den du noch gehen musst
Lebe in Frieden, las ich einmal irgendwo. Es war gerade zu der Zeit, als mich hier alles ankotzte. Verzeihen Sie mir, lieber Leser, diesen Ausdruck, aber ich finde keinen anderen. Alles ging schief, meine Ehe, Probleme im Job, das Geld war auch bachab gegangen und ich fühlte mich in jeder Beziehung ausgelaugt. Lebe in Frieden. Ja, wo war das denn, dieses „Frieden“? Ich suchte auf der Landkarte. Ich suchte und suchte und fand es nicht. Vielleicht sollte ich einfach drauflos fahren? Eine Freundin antwortete mir auf meine Frage, ob sie wisse, wo Frieden genau liege und wie viele Kilometer es bis dorthin wären, sie wisse es nicht, aber es müsse sehr weit weg sein.
Ich machte mich auf den Weg. Viele Kilometer hatte ich schon hinter mich gebracht, viele Menschen befragt, aber Frieden hatte ich noch nicht gefunden. Niemand wusste, wo Frieden war. Manche antworteten mir, sie hätten auch schon danach gesucht. Vergeblich.
Aber ich wollte nicht aufgeben. Schliesslich war doch da gestanden: Lebe in Frieden. Und das wollte ich finden, um jeden Preis, Frieden.
Ich fuhr weiter und weiter. Von einem Land zum anderen. Und überall fragte ich nach Frieden. Die Menschen schüttelten immer den Kopf. „Frieden?“, fragten sie, „wo haben Sie davon gehört?“
Das begann ich mich auch zu fragen. Wo hatte ich nur davon gehört? Doch ich war überzeugt, irgendwo auf dieser Welt musste es Frieden geben. Ich musste dieses Irgendwo finden. Es war zu wichtig für mich. Lebensnotwendig.
Auf dem langen Weg der Suche nach Frieden begegnete ich einer alten Frau. Sie ging langsam, gebückt an einem Stock, der Strasse entlang. Ich hielt an. Dann stand ich vor ihr. Sie hob den Kopf. „Gegrüsst seist du, mein Kind“, sagte sie und lächelte mich an. Sie war alt, sehr alt. „Was suchst du denn hier?“, fragte sie mich, „du scheinst schon lange auf Reisen zu sein, du siehst müde aus.“
„Ich suche Frieden. Wissen Sie, wo ich Frieden finde?“ fragte ich sie, einen Hoffnungsschimmer in meinem Herzen spürend. Diese alte Frau musste es doch wissen.
„Ja, mein Kind, ich weiss es schon, ich bin auf dem Weg dahin. Und ich werde bald dort sein. Aber für dich ist der Weg noch sehr, sehr weit. Für dich ist die Zeit noch nicht gekommen. Geh zurück, dorthin, woher du kommst. Dort ist ein Weg, den du noch gehen musst, lange bevor du Frieden finden kannst.“


Der Weg des Lebens
Ich laufe und laufe auf dem steinigen Weg des Lebens, immer in der Hoffnung, mein Ziel zu erreichen. Manchmal ist es greifbar nahe, doch dann komme ich wieder vom Weg ab. Falle hinunter die Böschung, reibe mir die Hände auf, und die Knie. Immer rappele ich mich wieder auf, um zurück auf den Weg zu kommen. Manchmal werde ich vom Wind gestossen. Er bläst in meinen Rücken und ich komme schneller vorwärts. Vorbei an fruchtbarer Erde, vorbei an zerstörten Wäldern. Vorbei an Wasser. Dem Elixier des Lebens. Wasser, welches aber auch den Tod bringen kann. Vorbei an wunderschönen Häusern, vorbei an elenden Hütten.
Ich laufe und laufe, ohne Ruhe. Ruhe darf ich mir nicht mehr gönnen. Dazu habe ich keine Zeit mehr. Vorwärts, nur vorwärts. Und wie dankbar bin ich dem Wind, wenn er mich schneller weiterträgt.
Er flüstert mir verführend zu: „Komm mit mir. Mit mir kommst du schnell voran.“
Und dann breitet er seine Flügel um mich und ich fliege mit ihm durch das Leben.
Doch, er trägt mich so hoch durch die Lüfte, ich kann den Weg meines Lebens nicht mehr sehen.
„Ich habe meinen Weg verloren“, klage ich, „lass mich frei“.
„Oh nein, das werde ich nicht“, sagt er nur, höhnisch lächelnd.
„Was habe ich getan! Warum habe ich mich von dir verführen lassen!“
Sein Lächeln wird zu einem grausamen Lachen, seine Flügel verzerren sich, ein Zischen und Pfeifen dringt durch die Luft und ich falle. Doch wunderbar weiche Flügel fangen mich auf.
„Keine Angst“, höre ich ein Flüstern, „ich bringe dich auf den Weg zurück.“
„Wer bist du?“, frage ich erstaunt.
„Ich bin der Gegenwind, ich bin hier, um Menschen wie dich zur Vernunft zu bringen. Sieh doch, wie du vom Weg abgekommen bist. Du wolltest schneller gehen und dir keine Zeit nehmen. Ruhelos jagst du nach deinem Ziel. Doch dein Ziel kannst du nur erreichen, wenn du Schritt für Schritt vorwärts gehst.“